Architektur im Kopf

von Matthias Walther

Die Kathedralen von Laon, Reims, Chartres und Beauvais

Heute noch ist an einigen großen französischen Kathedralen abzulesen, dass eigentlich mehr geplant war. Oftmals fehlten insbesondere die Türme. In Laon waren sieben Türme angedacht, von denen sogar fünf ausgebaut wurden, ihre hölzernen Spitzen aber wieder verloren. Der Kirchenbau in Reims wurde ebenso vollendet, liegen geblieben war allerdings das anspruchsvolle Projekt zum Ausbau der Anlage mit insgesamt sieben Türmen, ähnlich wie in Laon. So sollten sich neben der schönen, im Westen ausgeführten Fassade, auch jeweils doppeltürmige Fassaden an den Querschifffronten erheben, von denen immerhin die unteren Geschosse noch ausgeführt wurden. Über der Vierung hätte sich, wäre es nach dem Willen der Bauherren gegangen, ein sehr hoher Turm erhoben, der die gesamte Anlage gekrönt hätte. Noch im 16. Jahrhundert diskutierte man über den Ausbau der Turmgruppe mit einem größtenteils hölzernen Turmhelm über der Vierung, die somit eine beachtliche Gesamthöhe von etwa 171 Metern erreicht hätte. Auch diese Variante ist hier dargestellt.
Am ehesten kommt dieser Utopie eine Zeichnung des Architekturwissenschaftlers Viollet-le-Duc gleich. Seine oftmals publizierte „Cathedrale Ideale“ aus dem Jahre 1875 zeigt ein stark an Reims angelehntes Beispiel einer solch Kirche mit sieben Türmen. Vorrausgegangen war diesem großartigen Bauvorhaben die bereits erwähnte siebentürmige Kathedrale von Laon sowie die sogar mit neun Türmen geplante Kathedrale von Chartres. Zuletzt war ein solcher Bau zumindest ansatzweise tatsächlich ausgeführt worden bei der Kathedrale in Rouen sowie in Deutschland bei dem Dom in Limburg an der Lahn, hier jedoch noch in betont reduzierten, romanischen Formen.
Die umfangreichen Zeichnungen zu Reims zeigen Varianten in Anlehnung an Viollet-le-Duc, aber auch Ideen mit kleineren vollständig in Stein ausgeführten Formen in Art deutscher Gotik ähnlich dem Freiburger Turm.

Aus dieser Reihe früh- und hochgotischer Bauten bis zum 14. Jahrhundert fällt das letzte behandelte Beispiel von Beauvais etwas heraus. Es stellt die letzte große Variation des klassischen Typus einer mehrtürmigen Kathedrale dar. Der im spätgotischen Flamboyant-Stil gestaltete Bau besaß mit über 150 Metern Höhe den größten Vierungsturm in Frankreich. Der kunstvolle Turm stürzte schon bald nach der Fertigstellung wieder ein und riss einen Teil des noch unvollendeten Langhauses mit ein, das zum ausgleichenden Gegenschub der Kräfte des Turms nötig gewesen wäre. Hier erscheint der Bau jedoch fiktiv vollendet mit dem gesamten Langhausbau und den stumpf endend gedachten Fassadentürmen im Westen.

Turmreiche Dome in Frankreich

Die Vielzahl der Türme hatte symbolische Bedeutung, war aber auch Machtdemonstration des Bischoffs und der jeweiligen Stadt. Biblisch bedeutsame Zahlen wie die Drei (Dreieinigkeit Gottes), sieben (Wochentage, Todsünden), sowie zwölf (Apostel) wurden sinnbildlich umgesetzt. Auch aus liturgischer und politischer Motivation entstanden vieltürmige Anlagen, wie insbesondere in Deutschland durch die Doppelfunktion vieler Dome als kaiserliche und päpstliche Kirche. Durch doppelchörige Anlagen mit zwei Querschiffen, ergaben sich mächtige Chortürme sowie zwei Vierungskuppeln.
Natürlich waren mit mehreren Türmen ausgestattete Anlagen logisch abgeleitet aus dem vorherrschenden, basilikalen, Bautypus der Kirchen im Mittelalter, bei dem die Schnittpunkte der Schiffe und Vierungsbereiche ebenso betont wurden, wie die Kirchenfronten, die zumeist doppeltürmige Fassaden erhielten. In der Gotik wurde dieses aufwendige Prinzip in Frankreich zu höchster Perfektion gebracht, letztendlich überwog aber der Gedanke der Reduktion. Zumeist beschränkte man sich auf die Turmfassade im Westen oder die Ausführung eines einzigen hohen, und besonders aufwendig gestalteten Turms. Aus Geldmangel oder nachlassendem Interesse blieben viele Turme unvollendet oder wurden gar nicht mehr ausgeführt.