Architektur im Kopf

von Matthias Walther

Die historisch einzigartige Kaufmannsstadt, auch Mitglied der Hanse, erst später auch nominell königlich niederländische Hauptstadt, ist insbesondere geprägt von bürgerlicher Architektur, deren herausragender Höhepunkt zweifelsfrei das Rathaus im Renaissancestil wurde. Es war das Goldenen Zeitalter der Stadt, als die Niederlande zur Kolonialmacht ersten Ranges aufstiegen. Das Rathaus gilt als Palast der Händler einer weltbedeutenden Handelsmetropole, die zu den größten Städten Europas zählte. Calvinistische Bescheidenheit und politische Streitigkeiten der Bürger zu Kirche und Adel vereitelten jedoch weitere stadtbildprägende Bauwerke von Weltrang. Der allmählige Niedergang des holländischen Imperiums tat sein Übriges.

Turm und Kuppel:

Die Liebfrauenkirche, heute Neue Kirche am Dam, die fast zeitgleich zum Rathaus als nachgotische Kirche entstand, sollte ursprünglich einen hohen Einturm im Westen erhalten, dessen Fundamente heute noch bestehen. Ähnlich wie in Venedig wäre er ein beherrschender Stadtturm, ein Campanile mit Bezug zum Gesamtbild der Stadt geworden. Er wird hier in verschiedenen Varianten erörtert, um das sensible Gefüge zum Rathaus nicht zu schädigen, sondern dies zu bereichern. Anhand überlieferter Pläne und Modelle kann die Wirkung des maximal 125 Meter hoch geplanten Turmes nachvollzogen werden. Da es sich um eine Katholische Kirche handelte, wurde der Bau des gotischen Entwurfs ebenso wie in Renaissanceformen Van Campens durch den protestantischen Magistrat eifrig hintertrieben. Schließlich sollte die Kuppel des Rathauses einzige Dominante des Zentrums bleiben.

Ein bedeutender Zentralbau calvinistischer Konfession sollte mit der monumentalen Postkerk im Bereich des heutigen Rembrandtplein errichtet werden. Ein wahrlich salomonischer Tempel. Diese große im Kern hexagonale Kuppelkirche, die hier architektonisch nach Vorlagen des Architekten Nicolas Listingh von 1700 variiert wird, wäre zweifellos eine besondere Stadtkrone geworden, für die eine Ausweitung des heutigen Platzes notwendig geworden wäre. Der über 90 Meter aufragende Zentralbau bildet projektiv eine gedankliche Gegendominante zu dem nie gebauten Turm der Neuen Liebfrauenkirche.

Das Neue Rathaus und eine Kathedrale an der Amstel

Zum Nachteil des Stadtbildes wirkt sich bis heute der im 19. Jahrhundert zugeschüttete Amstelkanal zwischen Bahnhof und Rathausplatz aus. Diese Sünde wird hiermit wieder rückgängig gemacht. Die Börse Berlages, der bedeutendste Reformbau Amsterdams um 1900 wird etwas zurückverlegt angedeutet, da seine Fläche heute einen Teil der freizulegenden Amstel beansprucht. Bestehen bleibt allerdings der heutige Hauptbahnhof, der sich leider als Querriegel zwischen Meer und Amstel, dem alten Hafeneingang Amsterdams vom Meer aus hineinschiebt. Der vom Bahnhof zum Damplatz verlaufende Boulevard wird wieder zur repräsentativen Wasserstraße. Der Verkehr wird an breiten Uferpromenaden entlanggeführt.

Einige weitere Bauprojekte werden zur Veredelung des Stadtbildes und auch dessen Fernwirkung aufgenommen, die leider nicht verwirklicht wurden: Als eigenwilliges Monumentalprojekt sei noch auf die Planung eines gänzlich neuen Rathauses an Stelle der heutigen postmodernen Oper verwiesen, dass das seit Napoleons Einmarsch schließlich umfunktionierte Amsterdamer Rathaus in seiner alten Funktion ersetzt hätte. Dieses neue Rathaus ist durch zwei schlanke Campanile und einen als Exedra geformten flachen Vorbau mit einer Arkade akzentuiert. Die Fernwirkung ist auch auf den Blick vom Amstelkanal ausgelegt und korrespondiert auch mit Listinghs Kuppelkirche. Formal tendiert das Ratsgebäude zwischen Tradition und Moderne, zwischen Neurenaissance und Gotik sowie expressionistischen Elementen, die mit Einflüssen des Art Deko wechseln und entfernt an die Börse Berlages erinnern.

Einen besonderen Rang nimmt ein vereiteltes Meisterwerk Pieter Cuypers ein: auch die Planung zu der (in den 60iger Jahren abgebrochenen) neugotischen St. Willibrorduskirche am großen Amstelkanal sollte die mit Abstand größte neugotische Kirche der Niederlande werden, die auch hier in zwei Variationen als gotische Idealkirche erscheint. Es handelt sich um einen Bau mit sieben Türmen in rheinischen Formen des romanisch-gotischen Übergangsstils des 13 Jahrhunderts. Als Grundlage diente hier eine weitgehend übernommene Vorlage von Pieter Cuypers Entwurf von 1870, ein Bau, essen Umfang aufgrund Platzmangels später deutlich reduziert werden musste.

Der abgebildete erste Entwurf des riesigen Doms ist eine Antwort auf die gotischen Musterkathedralen Frankreichs, wie sie insbesondere Viollet-le-Duc ersann. In einer Zeichnung wurden die von Cuypers gänzlich spitz geplanten Türme mit Kuppeln abgeschlossen, lediglich die in ihrer Höhe leicht reduzierten Türme, die die oktogonale Zentralkuppel begleiten, sind mit spitzen Helmen bekrönt. Der nächste Plan zeigt die im Umfang reduzierte schmalere Kirche wiederum mit zentraler Kuppel über dem Oktogon und ohne ausgebaute Westtürme. Die abermals bescheidener umgesetzte Kirche St, Willibrordus wurde nie vollendet und in den 60iger Jahren leider gänzlich abgerissen.

Im Fall Amsterdams sieht man baukulturell wie an wenigen Orten Europas den raschen Aufstieg aber auch schnellen Verfall einer großen Epoche. Hätte die Stadt ihre Bedeutung länger erhalten wären neben dem Rathaus sicher noch weitere Wahrzeichen entstanden, die der Bedeutung der Handelsstadt noch besser entsprochen hätten.